LESEPROBE Die letzte Zuflucht

1.

 

Das Boot hatte keine Positionslichter gesetzt. Nur das Motorengeräusch verriet, dass es sich der Insel näherte. In einen schweren, dunklen Umhang gehüllt hatte die Frau am Ufer ausgeharrt. Als das Geräusch lauter wurde, stand sie auf. Sie entzündete eine Sturmlampe, hob sie hoch und schwenkte sie hin und her. Sofort wurde der Motor gedrosselt, und das Boot hielt auf sie zu. Dann erstarb das Geräusch. Es war nichts zu hören außer dem leisen Klatschen des Wassers. Die Frau stellte die Lampe auf einem Felsen ab und ließ sich auf den schmalen Streifen Sand hinuntergleiten, der die Klippe vom Meer trennte.

„Hallo?“ Die Männerstimme klang gedämpft.

„Hier!“, antwortete sie ebenso leise.

Knirschend schob sich der Rumpf des Bootes auf den Sand, und ein Mann sprang heraus. Mit schweren Schritten kam er auf sie zu. Erst als er direkt vor ihr stand, knipste er eine Taschenlampe an. „Ein Mann und eine Frau.“

Sie drehte sich weg, damit der Lichtstrahl nicht ihr Gesicht traf. „Ja, richtig.“

„Wie immer?“, fragte er und streckte fordernd die Hand aus.

Sie gab ihm einen gut gefüllten Umschlag. „Beeilt euch!“

Er prüfte den Inhalt und nickte zufrieden. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus. Nacheinander kletterten zwei Gestalten aus dem Boot. Jede trug eine Tasche bei sich.

„Ein bisschen schneller! Ich hab noch einen langen Rückweg.“  Ungeduldig schaute der Mann zu, wie die beiden ans Ufer wateten.

Die Frau half ihnen auf den Felsen hinauf. Dann hob sie die Hand. „Bis bald!“

Der Mann drehte sich um und verschwand. Kurz darauf wurde der Motor angelassen. Sofort verschluckte die Dunkelheit die Umrisse des Bootes. Dann war es wieder still.

Reglos standen die beiden Menschen da, ihre Taschen umklammert. Die Frau trat näher an sie heran. „Das muss sein“, murmelte sie, während sie die Ankömmlinge von oben bis unten abtastete.

„In Ordnung.“

„Wo sind wir hier?“, flüsterte der Mann.  

„Sie sind auf französischem Hoheitsgebiet“, kam die Antwort.

Die Frau stellte die Sturmlampe in eine vom Meer ausgewaschene Höhlung und drehte an einem Knopf. Das Licht erlosch. Aus ihrer Tasche holte sie eine starke Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf die unebene Grasfläche vor sich. „Wir haben einen langen Fußweg vor uns. Passen Sie auf, dass Sie nicht stolpern.“

Ohne eine Antwort abzuwarten wandte sie sich zum Gehen.

 

 

2.

 

Der Brief war eine echte Sensation. Die Postbotin, sonst eher kurz angebunden, konnte ihre Neugier kaum zügeln. „Der kommt aber von weit her“, bemerkte sie und überreichte Meduse einen Umschlag. Aber sie wartete vergeblich auf eine Antwort. Nach einem knappen „Danke“ wandte sich das Mädchen ab. Enttäuscht schaute die Postbotin ihr nach. Was für ein merkwürdiges Ding sie war, diese schwarzen Haare, und immer so düster angezogen. Dabei hätte sie ausgesprochen nett aussehen können, groß und schlank wie sie war.

Gut konnte sich die Postbotin noch daran erinnern, wie das Mädchen als Baby ausgesehen hatte. Flammend rote Haare. Und dazu seltsame grüne Augen, die einem bis in die Seele zu schauen schienen. In dem kleinen Ort im Odenwald hatte es über Wochen kein anderes Thema gegeben. Man raunte von einem Wechselbalg. Sogar der Pfarrer hatte sich bekreuzigt, als er sich über die Wiege beugte. Das Mitleid galt dem Vater, dem Herrn Professor Brunner. Aber das kam davon, wenn man eine heiratete, die nicht von hier war.

 

Meduse kümmerte sich nicht weiter um die Postbotin. Neugierig betrachtete sie die fremden Briefmarken und einen Absender, der Rätsel aufgab. ‚Jean-Baptiste Legrand, Advocat‘.  Sie hielt den Umschlag eine Weile in der Hand, bevor sie ihn öffnete. Das Schreiben war in Französisch abgefasst, einer Sprache, die ihr keine Mühe machte. Sie war zweisprachig aufgewachsen, wofür sie Sophie, ihrer französischen Mutter, dankbar war.

Es war eine amtliche Nachricht. Der Notar Jean-Baptiste Legrand schrieb, dass sie, Meduse Brunner, die alleinige Erbin ihrer verstorbenen Großtante, einer gewissen Antoinette Crédel, sei. Er teilte sein tiefes Mitgefühl über das Ableben der sehr geschätzten Dame mit und bat um baldige Entscheidung, ob sie gewillt sei, das Erbe anzunehmen.

Meduses Herz trommelte wild. Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus, um jedes Wort noch einmal genau zu lesen. Dann starrte sie eine Weile auf die Beete mit Blumen und Kräutern, der ganze Stolz von Maman, wie sie ihre Mutter nannte. Die hatte immer gesagt, dass es niemand mehr gab aus ihrer Familie. Das war eine Lüge gewesen.

Wenig später machte sie sich auf den Weg zu dem kleinen Waldsee. Sie wusste, dass das ihrer Mutter nicht gefallen würde. Maman hatte schon immer versucht, sie vom Wasser fernzuhalten. Aber es war ihr nicht gelungen.

 

Das Gewässer lag versteckt in einem Seitental. Für Meduse gab es nichts Schöneres als sich im Wasser zu bewegen. Es war ihr Element. In dem grünlichen Zwielicht fühlte sie sich leicht und schwerelos. Auch heute glitt sie mit tanzendem Herzen in den See, der sie warm umfing. Mit offenen Augen tauchte sie zum Grund und schaute zu, wie die langen Bänder der Wasserpflanzen sich träge bewegten. Dann schob sie sich wieder nach oben und ließ sich treiben. Sie blinzelte hinauf zur Sonne, und ihre Gedanken flogen.

 

Das Abitur war vorbei, die Schulzeit endlich zu Ende. Schon immer hatte sie sich nach Freunden gesehnt. Aber sie stach heraus mit ihrem Aussehen und ihrer Art. „Hexe“ hatten die Kinder ihr nachgerufen, und die großen Jungen hatten sie an ihren langen, roten Haaren gezogen. Sie war davongerannt, hatte niemand gezeigt, wie weh es tat. Trotzig hatte sie dem Blick des Vaters standgehalten, als sie eines Tages mit kurzen, schwarz gefärbten Haaren nach Hause kam. Von da an hatte sie sich tief über ihre Bücher gebeugt und alle in ihrer Klasse dumm aussehen lassen.

Jetzt genoss sie die Zeit des Nichtstuns. Und während ihre Eltern nach Möglichkeiten für ihre Zukunft suchten, machte sie selbst sich keine Gedanken darüber. Sie hatte das sichere Gefühl, dass etwas auf sie zukommen würde ganz ohne ihr Zutun. Aber sie sprach nicht darüber.

Nun war dieser Brief gekommen. Er war der Schlüssel zu allem, da war sie ganz sicher. Allerdings würde es nicht einfach sein, die Eltern zu überzeugen. Es brauchte einen kühlen Kopf. Und sie musste ihre Trümpfe gut ausspielen.

 

Beim Abendessen ließ sie die Bombe platzen.

„Tante Antoinette ist gestorben“, sagte sie wie nebenbei, während sie ihre Mutter genau beobachtete.

Sophie zuckte zusammen und starrte sie an. „Woher weißt du das“, fragte sie mit rauer Stimme.

Meduse stand auf und holte den Brief aus ihrem Zimmer. Als sie zurückkam, fand sie ihre Eltern miteinander tuscheln.

„Meint ihr nicht, dass ihr mich beteiligen solltet an eurem Gespräch? Es sieht so aus, als hätte mich diese Tante zu ihrer Erbin eingesetzt. Ich würde sehr gerne wissen, wer sie war.“ Kämpferisch schob sie ihre Unterlippe vor.

Ihre Mutter sah blass aus. Hatte der Tod der Tante sie so mitgenommen oder die Tatsache, dass Meduse jetzt von ihrer Existenz wusste?

„War sie das schwarze Schaf in deiner Familie?“, bohrte Meduse. „Und wo ist das eigentlich, St. Pierre et Miquelon?“

Sie vermutete Inseln in der Karibik. Das war die einzige Gegend, in der Frankreich noch Kolonien hatte, soweit sie wusste.

Sophie streckte wortlos ihre Hand nach dem Umschlag aus. Meduse überließ ihn ihr bereitwillig.

„Kennst du diese Tante auch?“, wandte sie sich an ihren Vater, der sein Besteck beiseitegelegt hatte. „Ich dachte, Maman hat keine Familie. Jedenfalls habt ihr mir das immer erzählt.“

Meduse war entschlossen, die Fährte zu verfolgen, bis sie auch das letzte Detail herausgepresst hatte. Wieder suchte sie den Blickkontakt zu ihrer Mutter, aber die schaute wortlos auf das Schreiben des Notars, als könne sie den Inhalt nicht fassen. Die Stille wurde unbehaglich.

„Sophie?“ Stefans Stimme klang gefährlich ruhig.

Die Mutter hatte sich wieder gefasst und zuckte mit den Schultern, als wäre das Ganze eigentlich nicht der Rede wert.

„Das hatte ich völlig vergessen. Ja, meine Tante. Sie ist vor vielen Jahren weggegangen, und niemand wusste, wohin es sie verschlagen hat.“ Sie legte nachdenklich einen Finger an  ihren Mund. „Sie muss schon sehr alt gewesen sein.“

Wieder studierte sie das amtliche Schreiben, und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „St. Pierre also. Das Meer hat sie weit getragen.“

Sie legte den Brief beiseite und griff nach Messer und Gabel.

„Du willst doch jetzt nicht einfach weiteressen?“, fragte Meduse fassungslos.

„Wir reden nachher darüber“, beendete ihr Vater die Diskussion.

Mühsam riss sich Meduse zusammen und begann, das Essen in sich hinein zu schlingen.

 

Endlich war der Tisch abgeräumt, und Stefan saß in seinem bequemen Sessel im Wohnzimmer. Sophie stellte ein Tablett mit drei Espressotassen auf den Tisch und setzte sich auf die Couch, wie sie es jeden Abend tat.

Meduse konnte ihre Anspannung kaum noch zügeln.

Unverhofft erwies sich ihr Vater als Verbündeter. „Also, wer war diese Tante? Und wenn nicht bekannt war, wo sie lebte, woher wusste sie dann von Meduse? Und wieso hat sie unsere Tochter als Erbin eingesetzt?“

Soweit hatte Meduse noch gar nicht gedacht. Ihr Vater hatte Recht, woher wusste diese geheimnisvolle Tante überhaupt von ihrer Existenz?

Sophie reichte ihrem Mann eine Tasse. Das Zittern ihrer Hand war unübersehbar.

Ungeduldig rutschte Meduse auf ihrem Hocker herum. „Nun sag schon.“

„Da gibt es nicht viel, was ich über sie weiß“, begann Sophie zögernd.

Stefan zog die Augenbrauen hoch. „Sie war also tatsächlich deine Tante?“

Sophie nickte. „Ja, die ältere Schwester meines Vaters, sehr viel älter. Sie sollte eigentlich das Familiengeschäft weiterführen, aber…“

„Was für ein Geschäft?“, hakte Meduse sofort nach.

Irritiert schaute Sophie sie an. „Meine Familie verkaufte Kräuter und Heiltränke. Die Rezepturen sind uralt und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Frauen bereiteten Salben und Säfte zu, und die Männer verkauften sie auf Märkten und in den größeren Städten.“

Meduse blieb der Mund offen stehen. „Ihr wart so was wie Quacksalber?“

Sophie verzog das Gesicht. „Diese Arzneien waren sehr wirksam und halfen den Menschen. Du musst dir vorstellen, dass da ein Wissen dahintersteckt, das über unvorstellbar lange Zeit zusammengetragen wurde. Heutzutage nennt man das Homöopathie.“

Meduse stieß ein Schnauben aus. Wahrscheinlich hatte Sophies Familie gefärbtes Wasser verkauft und den Leuten damit das Geld aus der Tasche gezogen.

„Das tut jetzt nichts zur Sache“, mischte sich ihr Vater ein. „Also weiter. Diese Tante ist also eines Tages verschwunden?“

Sophie nickte. „Ja. Ich habe sie nie kennen gelernt. Oder zumindest weiß ich es nicht mehr. Ich war noch ein Baby, als sie die Familie verlassen hat. Es wurde danach nie mehr über sie gesprochen. Denn sie hat die Tradition verraten und sich einfach davon gemacht.“

„Vielleicht steckt eine unglückliche Liebe dahinter“, mutmaßte Meduse. „Oder sie wollte nicht mehr länger die Leute betrügen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Lust auf Abenteuer.“

Ihr Vater warf ihr einen tadelnden Blick zu.

Meduse wurde rot. Sie hatte sich hinreißen lassen. Schon von klein auf war ihre ausufernde Fantasie bei ihm nicht gut angekommen. Als Naturwissenschaftler verließ er sich auf logisches Denken und exakte Beweise. Stets hatte er versucht, ihre übersprudelnden Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, wobei er allerdings wenig Erfolg hatte. „Das muss unsere Tochter von dir haben“, hatte er anfangs lachend zu seiner Frau gesagt. Im Laufe der Jahre war aus dem Lachen jedoch Missbilligung geworden. So hatte Meduse sich angewöhnt, ihre Gedanken für sich zu behalten.

„Und niemand hat jemals wieder etwas von ihr gehört?“, lenkte sie wieder auf den ominösen Brief zurück.

Sophie zögerte einen Moment zu lang, um noch zu verneinen.

Stefan hob den Kopf, auch er hatte bemerkt, dass da mehr war.

„Bis zum Tod meines Vaters kurz nach deiner Geburt wusste ich nichts darüber. Erst als ich zusammen mit meiner Mutter seine Sachen ordnete, haben wir ein paar Briefe gefunden, die von Toinette stammten. Allerdings gab es die Umschläge nicht mehr und damit auch keinen Absender.“

„Zeig her!“ Meduse sprang auf, aber Sophie schüttelte den Kopf.

„Als meine Mutter gestorben ist, bin noch einmal in die Bretagne gefahren und habe alles verbrannt.“

Enttäuscht setzte sich Meduse wieder hin. „Und es gibt nichts, an das du dich sonst noch erinnerst?“

Das Bedauern ihrer Mutter schien echt zu sein. „Ich hätte nie erwartet, noch einmal von ihr zu hören.“

„Tja, nun ist sie also wieder aufgetaucht“, stellte Stefan fest. „Und unser Kind hat eine Erbschaft gemacht. Was ist es eigentlich?“

Sophie wollte nach dem Brief greifen, aber Meduse war schneller.

„Hier steht es: Ein Haus. Und es ist auf St. Pierre et Miquelon. Wo immer das sein mag.“

Stefan schüttelte tadelnd den Kopf. „Hat man euch in der Schule überhaupt nichts beigebracht? Das ist eine kleine Inselgruppe im Atlantik, in der Nähe der kanadischen Ostküste. Sie gehört auch heute noch zu Frankreich. Außer ein wenig Fischerei gibt es dort nicht viel. Soweit ich weiß, wird sie vom Mutterland kräftig subventioniert.“

Meduses Herz klopfte bis zum Hals. „Da fahre ich hin“, verkündete sie, und ihre Stimme verriet, dass sie diesen Entschluss bis aufs Messer verteidigen würde. Es war einfach perfekt, genau jetzt war der ideale Zeitpunkt für eine aufregende Reise.

„Das kommt überhaupt nicht infrage.“

Meduses Kopf ruckte herum. Sofie hatte die Arme über der Brust verschränkt und schaute sie streng an.

Der Vater schwieg, ein gutes Zeichen. Aus Erfahrung wusste Meduse, dass er seine Überlegungen noch nicht abgeschlossen hatte.

„Ich hab mir eine Auszeit verdient. Schließlich habe ich das Abitur mit Einserschnitt gemacht. Andere gehen auf Weltreise, und das kostet einen Haufen Geld. Oder sie machen eine Zeitlang gar nichts. Ich will ja nur meine Erbschaft antreten, dagegen ist doch nichts einzuwenden!“

Sie bemerkte die Blicke zwischen ihren Eltern und fuhr eifrig fort.

„Ich könnte mir dort einen Job suchen. Für meine Sprachkenntnisse wäre es sicher nicht schlecht, wenn ich mal eine Weile nur Französisch höre.“

Ihr Vater schmunzelte. „Ein Job, hm. Und was hast du dir da so vorgestellt?“

„Keine Ahnung. Ich nehme, was ich kriegen kann. Kellnerin, Au pair, es wird sich schon was finden.“

„Wir werden sehen“, sagte er und griff zu seiner Espressotasse.